Warum Parentifizierung nicht auf Assistenzhunde anwendbar ist


Im Bereich der Arbeit mit Assistenzhunden taucht vereinzelt der Begriff „Parentifizierung“ auf. Diese Analogie ist jedoch fachlich unhaltbar.

Der Begriff stammt aus der menschlichen Entwicklungspsychologie und beschreibt ein pathologisches Rollenkonfliktmodell im familiären Kontext. Die folgende Analyse zeigt auf, warum dieser Begriff auf Hunde – auch hochspezialisierte wie Assistenzhunde – nicht übertragbar ist.

Was ist Parentifizierung?

Der Begriff Parentifizierung bezeichnet ein Phänomen aus der klinischen Psychologie, insbesondere aus der systemischen Familientherapie und Bindungstheorie. Er beschreibt die Umkehr familiärer Rollen, bei der ein Kind Aufgaben und Verantwortungen übernimmt, die eigentlich den Eltern zustehen.

Zwei Hauptformen:

Instrumentelle Parentifizierung: Das Kind übernimmt praktische Aufgaben (z. B. Haushaltsführung, Geschwisterversorgung).

Emotionale Parentifizierung: Das Kind wird zur emotionalen Stütze für Eltern oder Geschwister, oft mit starkem Loyalitätskonflikt.

Diese Rollenumkehr kann zu ernsthaften Entwicklungsstörungen führen: emotionale Erschöpfung, fehlende Ich-Entwicklung, Schuldgefühle, Beziehungsstörungen im Erwachsenenalter. Entscheidend ist dabei die dauerhafte und unbeachtete Überforderung des Kindes.

Warum ist Parentifizierung auf Hunde nicht übertragbar?

A. Unterschiedliche psychische Strukturen

Hunde besitzen keine menschenähnliche psychosexuelle Entwicklung und kein Selbstkonzept, das mit „kindlichen“ Rollen vergleichbar wäre. Sie sind nicht in der Lage, abstrakte soziale Rollen wie „Elternteil“ oder „Kind“ zu internalisieren.

B. Kein kognitiver Rollenkonflikt

Ein zentrales Kriterium von Parentifizierung ist, dass das Kind seine eigenen Bedürfnisse unterdrückt, um einer übernommenen Erwachsenenrolle gerecht zu werden. Dies setzt ein Bewusstsein über Rollen, Pflichten und eigene emotionale Bedürfnisse voraus – kognitive Leistungen, die Hunden nicht zugeschrieben werden können.

C. Verhalten basiert auf operanter Konditionierung

Assistenzhunde sind durch operante Konditionierung (Verhaltenslernen durch Belohnung) ausgebildet. Sie übernehmen Aufgaben wie das Bringen von Gegenständen, das Erkennen medizinischer Notfälle oder das Öffnen von Türen. Ihre Motivation basiert auf Training, Verstärkung und Bindung – nicht auf emotionaler Kompensation.

D. Anthropomorphismus ist ein Denkfehler

Die Vorstellung, ein Hund könne „parentifiziert“ sein, entspringt einem anthropomorphen Denkansatz – also der unzulässigen Übertragung menschlicher Konzepte auf Tiere. Hunde können enge soziale Bindungen eingehen, aber sie handeln nicht aus „Verantwortung“ im moralischen Sinne.

Professioneller Umgang mit Assistenzhunden

Gute Assistenzhundteams und Ausbildungsstellen achten auf:

regelmäßige Belastungskontrollen,

artgerechte Auslastung (körperlich und kognitiv),

Förderung von Freizeitaspekten,

Berücksichtigung von Ruhe- und Rückzugsphasen.

Die artgerechte Haltung und Ausbildung steht im Kontrast zur elterlichen Überforderung bei Parentifizierung.

Fazit

Der Begriff Parentifizierung ist nicht auf Assistenzhunde übertragbar. Hunde verfügen nicht über die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen, um in pathologische Rollenkonflikte im menschlichen Sinn zu geraten. Eine fundierte tierpsychologische Betrachtung und die ethologische Realität der Mensch-Hund-Beziehung lassen klar erkennen: die Aufgaben eines Assistenzhundes sind erlernt, belohnt und professionell begleitet – nicht aufgezwungen, überfordernd oder selbstgewählt im Sinne von Selbstaufopferung.

Literaturverzeichnis

1. Jurkovic, G. J. (1997). Lost Childhoods: The Plight of the Parentified Child. Brunner/Mazel.

2. Boszormenyi-Nagy, I., & Spark, G. M. (1973). Invisible Loyalties: Reciprocity in Intergenerational Family Therapy. Harper & Row.

3. Hooper, L. M. (2007). „The application of attachment theory and family systems theory to the phenomenon of parentification“. The Family Journal, 15(3), 217–223.

URL: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1066480707301290

4. Chase, N. D. (1999). Burdened Children: Theory, Research, and Treatment of Parentification. Sage Publications.

5. Hesse, E. (2016). The Adult Attachment Interview: Protocol, Method of Analysis, and Empirical Studies. Cambridge University Press.

6. Miklósi, Á. (2014). Dog Behaviour, Evolution, and Cognition. Oxford University Press.

7. Yin, S. (2009). Low Stress Handling, Restraint and Behavior Modification of Dogs & Cats. CattleDog Publishing.

8. Udell, M. A. R., & Wynne, C. D. L. (2008). „A review of domestic dogs‘ (Canis familiaris) human-like behaviors: Or why behavior analysts should stop worrying and love their dogs“. Journal of the Experimental Analysis of Behavior, 89(2), 247–261.

9. Bekoff, M. (2007). The Emotional Lives of Animals: A Leading Scientist Explores Animal Joy, Sorrow, and Empathy – and Why They Matter. New World Library.

10. Wikipedia-Artikel: „Parentification“.URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Parentification

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert